Im Neckar einige Krebse gefangen

Serie „Wir machen Sport“ (23): Beim Rudern muss man jede Sekunde voll konzentriert sein – RC Nürtingen ist seit Jahren sehr erfolgreich

Bestens gerüstet mache ich mich auf den Weg zum RC Nürtingen, um die Geheimnisse des Ruderns zu erforschen. Wilfried, ein Sportsfreund aus meiner Gymnastikgruppe und ehemaliger Ruderer, hat mich mit vielen Tipps und einem selbst verfassten Buch in Schönschrift versorgt. Als Schüler schrieb er eine tolle Jahresarbeit über seine große Leidenschaft.

Aber was nützt dies alles, wenn man plötzlich am Neckar steht und Muffensausen bekommt. Früher habe ich nicht mal meine Angebetete mit einem Kahn übers friedliche Wasser geschippert. Aus Angst vor der Blamage. Und nun soll ich in einem Ruderboot nicht nur mitfahren, sondern selbst Hand anlegen? Doch es gibt kein Zurück mehr. Mitgehangen, mitgefangen.

Apropos gefangen. Um es gleich vorneweg zu nehmen: ich habe im Neckar so manchen Krebs gezogen. So wird in der Rudersprache das Phänomen genannt, wenn man das Ruderblatt zu tief eintaucht oder nicht schnell genug aus dem Wasser bekommt. Jedes Mal hat das Boot gewackelt wie ein Kuhschwanz. Während mir heiß und kalt wird, können die anderen ein mitleidiges Schmunzeln nicht verkneifen. Gott sei Dank ist das Gefährt nie gekentert. Denn das ist meine größte Sorge bei diesem unvergesslichen Erlebnis gewesen.

Angefangen hat es mit der Frage einer Frau: „Kannst du steuern?“ Um Himmels willen. Ich kann weder lenken noch rudern. Ich bin ein blutiger Anfänger und froh, noch mit beiden Beinen an Land zu stehen. Aber dies ändert sich bald. Patrick Plagge, Leiter der Breitensportgruppe beim RCN, teilt mich in ein Fünferboot ein. Neben dem „alten Hasen“ sind noch die Frischlinge Anja Engel, Sarah Schirmer und Philipp Huggenberger an Bord. Sie sind seit Februar aktiv. Wenn ein Engel mit dabei ist, kann ja nichts schief gehen. Zumal unser fahrbarer Untersatz auch noch „Stella“ heißt. Da müssen ja die Sterne an diesem Abend gut für uns stehen.

Wir hieven die „Stella“ ins Wasser. Wenigstens ist der Neckar spiegelglatt. Das beruhigt mich ein bisschen. Vielleicht endet das Abenteuer doch nicht mit einem Platsch ins Nass, mache ich mir Mut. Die Skulls genannten Ruder werden in den sogenannten Dollen befestigt, die sich am äußersten Ende der Ausleger befinden. Der erste Balanceakt ist das Einsteigen. Plagge macht es mir vor. Ich folge seinem Beispiel und komme unbeschadet auf dem Rollbrett zum Sitzen. Daheim auf meinem Sofa ist’s viel bequemer. Meine Füße schnallt Plagge im Stemmbrett fest. Anschließend nimmt er hinter mir Platz.

Dann kann’s losgehen. Mit dem Rücken zur Fahrtrichtung. Ich werfe noch einen flüchtigen Blick auf das herrliche Panorama mit der Stadtkirche und den alten Fachwerkhäusern. Doch weil ich so angespannt bin, kann ich Nürtingens Schokoladenseite kaum genießen. Zumal ich auch noch schnell feststelle, dass man beim Rudern jede Sekunde voll konzentriert sein muss. Mein Lehrmeister erklärt, dass sich bei diesem Kraftausdauer-Sport ganz allgemein zwei Phasen unterscheiden. Über den Ruderschlag wird Wasser nach hinten gedrückt und das Boot als Gegenreaktion nach vorn beschleunigt. Die Beine erbringen hier die größte Kraft, indem sie sich gegen das Stemmbrett strecken.
Aber Oberkörper und Arme sind ebenfalls beteiligt. Deshalb wird das Rudern als Sportart geschätzt, die nahezu alle Muskelgruppen beansprucht. Der durchgezogene Ruderschlag endet in einer Rücklage, und daraufhin erfolgt die Vorwärtsbewegung auf dem Rollbrett, mit der man den nächsten Schlag vorbereitet. Der Vortrieb des Boots ergibt sich dann aus Antriebsweg, Beschleunigung und Geschwindigkeit, dem höchstmöglichen Widerstand am Blatt. Neben der Kraft ist auch die Technik enorm wichtig.

Nachdem mir Plagge den richtigen Griff für die Skulls beigebracht hat, wage ich zaghaft die ersten Ruderschläge. Das Boot schippert in Zeitlupe am Uferrand entlang. Es ist schwierig, die beiden Ruderblätter gleichzeitig einzusetzen und nur knapp unter die Wasseroberfläche einzutauchen, beim Auftauchen zu drehen und dann den nächsten Schlag zu beginnen. Hinter mir tönt es: „Gleichmäßig und gefühlvoll rudern, nicht verkrampfen, rolle auf dem Brett richtig nach vorne und hinten, sitze gerade und halte die Knie zusammen.“ Das ist ein bisschen viel auf einmal für einen Schreibtischtäter wie mich.

Mit der Zeit klappt’s freilich immer besser. Nach 20 Minuten stelle ich fest, wie ich, nun ja, nicht gerade locker, aber doch ein wenig zuversichtlicher werde. Langsam löst sich mein Hirn von seinem Mantra "Nicht kentern, bitte nicht kentern". Ich fange an, die Welt um mich herum wahrzunehmen. Neben uns schießt ein Einer vorbei, einige Blässhühner ziehen seelenruhig ihre Bahnen. Plagge fordert nun die anderen auf, ebenfalls einzusteigen. Sie kommen mir vor wie Profis, dabei rudern sie erst seit Februar. Der im Bug sitzende Schlagmann gibt die Schlagzahl an. Ich habe sichtlich Mühe mit dem synchronen Bewegungsablauf und gerate öfters aus dem Takt. Ein flüssiger und harmonischer Ablauf ist mit einem Bremsklotz namens Horst kaum möglich.

Nach eineinhalb Kilometern ist ein Wehr erreicht. Wir wenden und fahren zurück zum Ruderclub. Ich versuche nochmals, das Beste aus mir herauszuholen. Nach einer Stunde legen wir wieder an. Meine Hände sind schweißnass vom krampfhaften Umklammern der Griffe. Mein Rücken tut weh, genauso meine Beine, von anderen Körperteilen ganz zu schweigen. Am linken Oberschenkel sind ein paar Kratzer zu sehen. Macht nichts. Was tut man nicht alles für seinen Arbeitgeber.

Plagge klopft mir auf die Schulter: „Für einen Anfänger ist das nicht schlecht gewesen.“ Ein typisch schwäbisches Lob. Sein Angebot, noch eine Runde mitzudrehen, lehne ich dankend ab. Schließlich muss ich noch mit dem Vorsitzenden Gisbert Zahn und seinem Stellvertreter Andreas Keller reden. Die beiden sind mächtig stolz auf die Erfolge des Klubs, der 330 Mitglieder hat und im Juni zehn Medaillen (davon dreimal Gold) bei den deutschen Jahrgangsmeisterschaften in Köln holte. Bei den Landesmeisterschaften kürzlich in Breisach war der RCN zum dritten Mal in Folge der erfolgreichste Verein.

Auch international machten die Nürtinger Ruder-Junioren in den vergangenen Jahren auf sich aufmerksam. Henry Gieseler gewann 2011 WM-Silber mit dem deutschen Junioren-Achter, David Wollschlaeger und Nick Blankenburg wurden 2013 WM-Zweiter mit dem Vierer und 2014 Weltmeister mit dem Achter, Lars Lorch belegte bei der WM 2015 mit dem Achter den dritten Platz, Oliver Peikert sammelte 2016 und 2017 mit dem Vierer mit Steuermann Silber und Bronze. Diese hervorragenden Leistungen weiß ich noch mehr zu schätzen, seit ich auf dem Neckar Krebse gefangen habe.

24.08.2018 // Bericht: Horst Jenne // Foto: Holzwarth

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